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Kompendium
Mittelalter

Kodikologie/Handschriftenkunde

Kodikologie ist die Lehre von den (mittelalterlichen) Büchern (Codices). Sie beschäftigt sich mit der materiellen Ausstattung von Handschriften (Schrift, Abbildungen, Pergament und/oder Papier, Größe und Umfang, Buchdeckel usw.).

Das Buch stand im Zentrum mittelalterlicher Schriftlichkeit und Bildung, sofern Letztere mit Schriftlichkeit zu tun hatte. Das mittelalterliche Buch ist der Codex (wohl von lateinisch caudex, "Holzblock"; vergleiche: "Buch" und der Baum "Buche"). Anders als die in der Antike so verbreitete Papyrusrolle (Rotulus) besteht der in der späteren Antike (seit dem 1. Jahrhundert) auftretende Codex aus Pergamentblättern, die von Buchdeckeln geschützt und über den Buchrücken zusammengebunden wurden. Dabei war die Herstellung des Grundstoffes Pergament ein aufwändiger Vorgang, musste doch die Haut von Schaf, Ziege oder Kalb gegerbt, gebeizt, abgeschabt, aufgespannt, getrocknet und gekalkt werden, wobei die Haar- und die Fleischseite des Pergaments mitunter eine unterschiedliche Qualität aufwiesen. Die Kostbarkeit des Pergaments - man bedenke, dass ein Codex die Haut von einigen Dutzend Kälbern oder Schafen benötigte - führte zu einem sparsamen Umgang mit dem robusten Beschreibstoff und zu dessen Wiederverwendung, wenn Bücher nicht mehr benötigt wurden (Palimpseste). Ab dem 15. Jahrhundert wurde das Pergament ausgedienter Handschriften von Buchbindern für Buchdeckel und -rücken benutzt (Makulatur). Damals hatte schon längst das Papier das Pergament als Beschreibstoff verdrängt. Nicht zuletzt spielte hier die Papierherstellung eine wichtige Rolle. Die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg (†1468) um die Mitte des 15. Jahrhunderts leitete dann das Ende der handgeschriebenen Bücher ein.

Tinte und Farben mussten zunächst hergestellt werden; Tinte etwa wurde aus Ruß und Schlehdorn gewonnen, die rote Farbe ist Mennige (rotes Bleioxyd, minium, wovon sich das Wort "Miniatur" ableitet), für Gelb fanden Ocker oder Auripigmentum (gelbes Arsinsulfid) Verwendung, Grünspan lieferte ein mattes Grün, pulversiertes Lapislazuli, ein sehr teures Pigment, Ultramarinblau, Bleiweiß Weiß, Ruß oder verkohlte Knochen schließlich Schwarz. Bindemittel wie Eiklar lassen hauchdünnes Blattgold am Pergament heften. Geschrieben wurde mit den Kielfedern von Gans oder Schwan, gemalt mit Pinseln.

Das Schreiben mit der Feder führte dazu, dass die Buchstaben des lateinischen Alphabets aus dickeren und dünneren Bögen und Schäften zusammengesetzt waren (Haar- und Schattenstriche). Als Großbuchstaben wurden Lettern der lateinischen Capitalis, einer kalligrafischen Majuskelschrift, verwendet, die römische Inschriften-Capitalis besaß "Füßchen" (Serifen); Kleinbuchstaben waren die karolingischen Minuskeln (um 800) und deren gotische bzw. kursive und halbkursive Ableger (Textura, Bastarda; 12. Jahrhundert); die humanistische Minuskel, die Antiqua (15. Jahrhundert), war die Buchschrift im gedruckten Buch (Majuskel im Zwei-, Minuskel im Vierlinienschema [Ober-, Unterlängen]). Im Verlauf des frühen Mittelalters bildete sich das Schema der Worttrennung (Abstand zwischen Worten) aus, die Interpunktion mit ihren Satzzeichen und Großbuchstaben halfen, den Text in Sinnabschnitte zu untergliedern, Worttrennungszeichen traten ab dem 11. Jahrhundert, der i-Punkt ab ca. 1100 in Erscheinung. Dies alles verbesserte die Lesbarkeit einer Handschrift und veränderte somit das Lesen selbst.

Der Text wurde auf das liniierte Pergament (ein- oder mehrspaltig) geschrieben, wobei man die meist in Rot auszuführenden Überschriften, Auszeichnungen und Anfangsbuchstaben berücksichtigte (Rubrizierung; von lateinisch rubrum für "rot") und Platz für den später anzubringenden Buchschmuck (Initialen, Verzierungen, Illustrationen) ließ. Der Satzspiegel ergab sich u.a. aus der Anzahl der Zeilen und Spalten pro Seite, aus dem Seitenrand und dem Zeilenabstand (Vorgaben der Zeilen und der Textbegrenzung durch Liniierung).

Ein rechteckiges Pergamentstück ließ Raum für vier Seiten, je zwei Seiten bildeten ein meist hochrechteckiges Folium: die (rechts liegende) Vorderseite und die Rückseite eines Blattes (recto für Vorder-, verso für Rückseite; folio als Ablativ zu folium). Zusammengefasst wurden die Doppelblätter (Bifolien) zu Lagen, die übliche, aus vier Doppelblättern bestehende Lage heißt Quaternio (entsprechend Binio: 2, Ternio: 3, Quinternio: 5 usw.). Die Faltung des Pergaments (einmal: Folio-, zweimal: Quart-, dreimal: Oktavformat usw.) bestimmte zudem die Größe der Seiten und des Buchs. Lagen und Doppelblätter wurden durchgezählt (Foliierung als Blättzählung, Paginierung als Seitenzählung).

Die Buchdeckel bestanden meist aus Holz, die Lagen wurden aneinander genäht, die Bünde an den Deckeln befestigt, der Buchblock geschnitten, Deckel und Rücken außen mit Leder oder Pergament überzogen, die Innenseiten der Deckel mit Spiegelblättern versehen. Buchschließen verschlossen das Buch.

Literatur: BUHLMANN, M., Die mittelalterlichen Handschriften des Villinger Klosters St. Georgen. Handschriften in der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe (= VA 27), St. Georgen 2007; HAUSCHILD, S., Mönche, Maler, Miniaturen. Die Welt der mittelalterlichen Bücher, Ostfildern 2005; JAKOBI-MIRWALD, C., Das mittelalterliche Buch. Funktion und Ausstattung (= RUB 18315), Stuttgart 2004; KNAUS, H., Studien zur Handschriftenkunde. Ausgewählte Aufsätze, München-London-New York-Paris 1992; KRENN, M., WINTERER, C., Mit Pinsel und Federkiel. Geschichte der mittelalterlichen Buchmalerei, Darmstadt 2009; PÄCHT, O., Buchmalerei des Mittelalters. Eine Einführung, München 1984; STAMMBERGER, R.M.W., Scriptor und Scriptorium. Das Buch im Spiegel mittelalterlicher Handschriften, Graz 2003

Bearbeiter: Michael Buhlmann