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Russische Geschichte: Mittelalter, frühe Neuzeit, Moderne
Von Beginn an spielt sich russische Geschichte ab im Rahmen slawischer Geschichte in Osteuropa. Osteuropa meint insbesondere die osteuropäische Tiefebene zwischen Ostsee und Schwarzem Meer mit Tundra, Wald und Steppe, mit Zugang u.a. nach Zentralasien und den großen Flussläufen etwa von Dnjepr, Don oder Wolga. An slawischen Völkern - unter der Herrschaft von Fürsten - werden die Poljanen und die Drewljanen erkennbar. Im 9. Jahrhundert treten als Eroberer und Handeltreibende die skandinavisch(-schwedisch)en Rus in Erscheinung (Novgorod, Alt-Ladoga, Kiew). In der 2. Hälfte des 9. Jahrhunderts gelingt den Rus oder Warägern - auch vor dem Hintergrund eines schwächelnden Chasarenreiches - die Ausbildung der Herrschaft der Kiewer Rus (882-1240) unter Oleg (879-912/22), dem Nachfolger Ruriks von Novgorod (Eroberung Kiews 882, Angriff aus Konstantinopel 907). Slawen und skandinavische Wikinger verschmolzen bald zu einer politischen Einheit als dynastischer Herrschaftsverband, der auch Griechen, Tartaren u.a. umfasste; der Begriff "Rus" bezeichnete alsbald alle Bewohner des Kiewer Herrschaftsraums der Rurikiden. Auch spielte die Gefolgschaft des Großfürsten (druzína) eine wichtige machtpolitische Rolle.
Neben Handelsaktivitäten waren im 10. und beginnenden 11. Jahrhundert die Beziehungen zum byzantinischen Reich durch eine vielfach von der griechisch-orthodoxen Kirche betriebenen Christianisierung der Rus geprägt; als bedeutende Kiewer Großfürsten sind zu nennen: Swjatoslaw I. (962-972), der gegen das Chasarenkhanat vorging und sich mit den Petschenegen Auseinandersetzungen lieferte; Wladimir I. der Heilige (978/80-1015), unter dem hauptsächlich die Christianisierung erfolgte; Jaroslaw I. der Weise (1019-1054), der erfolgreich die Petschenegen bekämpfte, während ein Angriff auf Konstantinopel misslang (1043), und eine Gesetzessammlung (Rússkaja Právda) herausgab (1019); Wladimir II. Monomach (1113-1125). Im 11. und 12. Jahrhundert bestand die Kiewer Rus aus rurikidischen Teilfürstentümern (Smolensk, Novgorod, Suzdal, Valdimir u.a.), ebenso waren in dieser Zeit die christlichen Staatswesen Böhmen, Ungarn und Polen an der Westgrenze der Rus entstanden. Auseinandersetzungen zwischen den Teilfürstentümern erleichterten dabei das Vordringen von Steppenvölkern in die Rus; 1223, 1237/39 und 1240/42 kam es zu mongolischen An- und Übergriffen (Zerstörung Kiews 1240), die das politische Ende des Kiewer Rus bewirkten.
In der nachfolgenden Mongolenzeit (1240-14. Jahrhundert, Mitte) standen die russischen Fürstentümer unter der meist lockeren Herrschaft der mongolischen Blauen bzw. Goldenen Horde, die zunehmend vom mongolischen Großkhanat in Karakorum unabhängig wurde. Die Fürstentümer waren gegenüber den "Tataren" tributpflichtig, das Christentum blieb in der Bevölkerung ein Identitätsanker. Unter den Fürstentümern erlangten manche eine größere Bedeutung, etwa Galizien-Wolhynien, Smolensk, Novgorod oder Wladimir-Suzdal, das wiederum in die Kleinfürstentümer Perejaslawl, Rostow, Susdal, Jaroslawl, Moskau und Twer machtpolitisch zersplitterte (14. Jahrhundert, Anfang).
Novgorod hatte sich im 13. Jahrhundert im Ostseeraum mit dem expandierenden Deutschen Orden (Preußen, Baltikum) auseinanderzusetzen (Alexander Newski [1236-1263], Schlacht auf dem Peipussee 1242), während das Teilfürstentum Moskau (Ersterwähnung Moskaus 1147) im Verbund und mit Unterstützung der Mongolen gegenüber dem Großfürstentum Twer zu Macht und Einfluss etwa unter Fürst Iwan I. (1328-1341) gelangte (Moskau als Metropolitensitz der russisch-orthodoxen Kirche 1325/28, Großfürstentum Moskau 1375). Parallel zum "Aufstieg" Moskaus vollzog sich die Ausformung des heidnischen Großfürstentums Litauen von der Ostsee bis hin zum Schwarzen Meer bei Vereinigung Litauens und Polens unter Annahme des christlichen Glaubens durch die Litauer (1386).
Das Moskauer Fürstentum entwickelte sich im Zeitalter der "Sammlung der russischen Erde" (14. Jahrhundert, Mitte-1547), im 14. Jahrhundert zu einer auch dynastisch stabilen Herrschaft zunächst im Gefolge der Mongolen/Tartaren, dann gegen diese, wie der russische Sieg unter Großfürst Dmítrij Donskój (1359-1389) gegen die Tataren bei Kulikóvo ("auf dem Schnepfenfeld", am unteren Don; 1380) zeigt. Angriffe der Goldenen Horde (mongolische Eroberung Moskaus 1382, tatarischer Einfall 1408/09) und die Ausdehnung des Großfürstentums Litauen behinderten indes die weitere Machtausdehnung des Moskauer Großfürstentums, das sich immerhin im Norden (Moskauer Angriff auf Novgorod 1389) und Nordosten seinen Einflussbereich z.B. unter Vasílij II. (1425-1462) erweitern konnte.
Unterdessen war die Tatarenherrschaft in Osteuropa im Schwinden begriffen; das Khanat der Goldenen Horde sollte sich im Verlauf des 15. Jahrhunderts in die Khanate Kasan (1438), Krim (1441) und Astrachan (1485) zergliedern (Ende der Mongolenherrschaft 1480). So konnte Vasílijs II. Sohn Iwan III. (1462-1505) die Vereinigung russischer Herrschaften unter Moskauer Führung gegen Tartaren und Litauer erfolgreich fortsetzen (Eingliederung Novgorods 1480, Stehen an der Ugra 1480, russisch-litauische Kriege [1492, 1500-1503], Schlacht am See Smolina 1502). Zudem stärkten eine sich ausformende Autokratie bei Zurückdrängung von Kirche und Adel sowie die Promogenitur als Nachfolgeordnung die Position des Großfürsten "aller Russen", ebenso die Ausformung Moskaus zum "dritten" Rom in der Nachfolge des (1453) untergegangenen byzantinischen Reiches (Heirat Iwans III. mit einer Paläologin 1472; Übernahme des doppelköpfigen Adlers in das Moskauer Wappen).
Iwans Enkel Iwan IV. (der Schreckliche; 1533/47-1584) konnte dann, nach längeren inneren Auseinandersetzungen zum Zar gekrönt (1547), die Zentralisierung seiner Herrschaft über die (ehemaligen Kiewer) Fürstentümer fortsetzen (Verschriftlichung des Rechts 1550, Heeresreform und Ansätze zur Entwicklung eines stehenden Heeres ca.1550, "Hundertkapitelsynode" 1551, Förderung des Dienstadels gegenüber den Bojaren; russisches Zartum, 1547-1721). Die Eroberung der Khanate Kasan und Astrachan (1552, 1556) beseitigte die Tatarengefahr weitgehend (Angriff der Krimtataren auf Moskau 1571), Teile Westsibiriens über den Ural hinaus kamen zudem unter russische Herrschaft (1582; Khanat Sibir, Kaufmannsfamilie Stroganow). Nach Westen hin scheiterten indes die machtpolitischen Ambitionen Iwans weitgehend (livländischer Krieg 1558-1582/83; schwedisches Estland, polnisches Livland 1561; Union von Lublin 1569; Gründung von Archangelsk 1584). Nach innen festigte der psychisch kranke Zar seine Position durch Terror zunächst gegen die Bojaren, die ermordet, verfolgt und verdrängt wurden, dann auch gegen den eigenen Dienstadel (Opritschnina als dem Zar direkt unterstelltes Territorium, Kosaken im Grenzgebiet der russischen Herrschaft).
Beim Tod Iwans IV. (1584) war Russland jedenfalls nach innen und außen geschwächt, zumal mit Iwans Sohn Fjodor I. (1584-1598) ein schwacher Zar folgte, für den sein Schwager Boris Gudonow (Zar 1598-1605) regierte. Mit Fjodor endete die Dynastie der Rurikiden, in der "Zeit der Wirren" (Smuta 1601/13), ausgelöst auch durch Hungersnöte, standen verschiedene Ansprüche auf die Thronfolge sich entgegen (Volksaufstände, falsche Demetriusse, Bojaren, polnisches Eingreifen [Moskau 1605/12, Smolensk 1611], schwedisches Eingreifen [Vertrag von Wiborg 1609 und russischer Verzicht auf Livland]), bis sich die Landstände auf Michail Romanow (1613-1645), den Begründer der Romanow-Dynastie, einigen konnten. Vordringlich kam es danach zu einem Ausgleich mit Schweden (Frieden von Stolbóvo 1617) und Polen (Waffenstillstand von Deúlino 1618), während Russland nach Osten (Sibirien) und Südosten (Kaukasus) weitere Gebietsgewinne verzeichnen konnte (Eroberung des türkischen Asow 1637). Das russische Reich blieb aber vielfach immer noch instabil, auch in der Regierungszeit Alexéjs I. (1645-1676) (Moskauer Aufstände [1648, 1662], Pestepidemie [1654/55], Finanzkrise [1656/63]) und durch die Spaltung der russischen Kirche im Gefolge von Reformen (1653/56).
Dem standen immerhin russische Gebietsgewinne in Bezug auf das polnische Königreich gegenüber (russisch-polnischer Krieg 1654-1667, Frieden von Andrúsovo 1667 [Gewinn von Smolensk, Weißrussland, Ostukraine]). Zar Peter I. der Große (1689-1725) konnte sein Land dank der petrinischen Reformen und einer Öffnung nach Westeuropa innen- und außenpolitisch festigen. Die Reformen betrafen die Verwaltung und den Staatsaufbau, auch die Modernisierung des Heeres, die Gründung St. Petersburgs als neue russische Hauptstadt, die Übernahme westlicher Kultur (Aufklärung). Im Großen Nordischen Krieg (1700-1721; Niederlage an der Narva 1703, Sieg bei Poltawa 1709) wurde mit Frieden von Nystad (1721) Russland, das sich Estland und Livland einverleiben konnte, zur bestimmenden Macht im Ostseeraum (Kaisertum Peters I.; russisches Kaiserreich 1721-1917). Hingegen scheiterte die russische Expansion gegen das osmanische Reich (1711).
In der Nachfolge Peters traten die Zarinnen Anna Iwanowna (1730-1740) und Peters Tochter Elisabeth Petrowna (1741-1762) hervor. Kriege wurden mit wechselndem Erfolg gegen die Osmanen (Frieden von Belgrad 1739) und Schweden (1742-1743) geführt, Russland beteiligte sich ebenfalls am Siebenjährigen Krieg (1756-1763; russische Besetzung Ostpreußens 1758, "Mirakel des Hauses Brandenburg" 1762). Die Reformen Peters III. (von Schleswig-Holstein-Gottorf, 1762) führten zu dessen Sturz in Zusammenhang mit der Selbstherrschaft von dessen Ehefrau Katharina der Großen (von Anhalt-Zerbst, 1762-1796). Letztere regierte gestützt auf den russischen Adel, setzte Modernisierungen durch (Verwaltungsreformen und Selbstverwaltung 1775, "Gnadenurkunde" 1785, Bildungspolitik) und musste sich eines massiven Bauern- und Kosakenaufstandes in der Wolgaregion und in der Ukraine (1773/75) erfolgreich erwehren (Ansiedlung deutscher Einwanderer). Im 1. Türkenkrieg (1768-1774) und Frieden von Kütschük-Kainardschi (1774) eroberte Russland große Gebiete bis zum Schwarzen Meer ("Neurussland", Gründung von Odessa, Annexion der Krim 1783), weitere Gebietsabtretungen des osmanischen Reiches folgten nach dem 2. Türkenkrieg (1787-1791) im Frieden von Jassy (1791). In der 1. und 2. Teilung Polens (1772, 1793) erwarb Russland weite Teile im östlichen Teil des Königreichs (3. Teilung 1795).
Katharinas Nachfolger, Zar Paul I. (1796-1801), verfügte die Primogenitur als Nachfolgeregelung im Zartum (1797). Die Ermordung Pauls brachte dann Zar Alexander I. (1801-1825) an die Herrschaft. Während die Autokratie von den Impulsen der Französischen Revolution (1789) weitgehend unberührt blieb, war Russland als europäische Großmacht dennoch in die Auseinandersetzungen mit dem französischen Kaiser Napoleon (†1821) verwickelt (Großherzogtum Polen 1807/09, Russlandfeldzug der Grande Armée Napoleons 1812). Parallel dazu gelang die Annexion Georgiens (1804) und Finnlands (Frieden von Frederikshamn 1809; Sonderstellung und Autonomie Finnlands). Beim Wiener Kongress (1814/15) trat Alexander als Führer der damals gegründeten Heiligen Allianz (Russland, Österrich, Preußen) in Erscheinung, das "Zartum Polen" wurde mit dem russischen Zarenreich verbunden (polnischer Aufstand 1830/31, "Organisches Statut" 1832, Aufhebung des polnischen Sonderstatus im russischen Reich 1863). Im Fernen Osten, wo Russland in Alaska auf den nordamerikanischen Kontinent übergegriffen hatte, kam es zu ersten Spannungen mit den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) (Verkauf Alaskas an die USA 1867). Im Zusammenhang mit dem Regierungsantritt des Zaren Nikolaus I. (1825-1855) brach in St. Petersburg der Dekabristenaufstand aus (1825); die Gegenreaktion des Zaren traf insbesondere die wenigen in Russland lebenden Intellektuellen.
Innenpolitisch blieb unter der Ägide von christlicher Orthodoxie, despotischer Autokratie und zunehmendem Nationalismus alles beim Alten, insbesondere was die Lage der abhängigen Bauern betraf (russische Reaktion gegen die europäische Revolution von 1848/49). Dagegen expandierte das russische Reich nach Zentralasien und in die Kaukasusregion (russisch-persischer Krieg 1826-1828; Taschkent, Samarkand, Buchara 1865/68; Chiwa, Kokand, Merw 1873/76/84; Nordkaukasus 1864; China, Großbritannien und Russland in Persien und in Afghanistan, englisch-russisches Übereinkommen 1907), während der Krimkrieg (1853-1856) gegen Großbritannien, Frankreich und das Osmanischen Reich auf Grund der militärischen und wirtschaftlichen Rückständigkeit und Stagnation Russlands verloren ging (Pariser Frieden 1856). Zar Alexander II. (1855-1881) hob daher in seiner Regierungszeit auf Reformen ab (Aufhebung der bäuerlichen Leibeigenschaft 1861, Rechtsreform 1864, [wieder eingeschränkte] Pressefreiheit 1865, Heeresreform 1874, Bildungsreformen), während das Dreikaiserbündnis (1873; erneuert 1881, 1884) Russland weiter im europäischen Mächtesystem verankerte. In der Pazifikregion gelang die Ausdehnung der russischen Herrschaft bis zum Amur (1860); die russischen Erfolge im Krieg gegen die Osmanen (1877-1878; Frieden von San Stefano 1878) wurden auf dem Berliner Kongress (1878) revidiert (osmanisches Reich und "orientalische Frage").
Die Regierungszeit Zar Alexanders III. (1881-1894) stand weiter unter der Intensiverung der autokratischen Machtverhältnisse bei durchgeführter Russifizierung Finnlands und des Baltikums (1887/90; Rückversicherungsvertrag 1887). Unter Zar Nikolaus II. (1894-1917), dem letzten (Romanow-) Zar (vor der Oktoberrevolution), entfaltete die unter den Vorzeichen der Industrialisierung aufgekommene Arbeiterschaft auch zunehmend politische Wirksamkeit (Gesetze für die Arbeiterschaft 1882/97, Sozialdemokratische Partei Russlands 1898, deren Spaltung in Menschewiki und Bolschewili 1903). Russland unterlag Japan im russisch-japanischen Krieg (1904-1905; russische Besetzung von Port Arthur 1897, Schlacht bei Tsushima 1905), innenpolitisch spielte die Revolution von 1905 eine Rolle (Einrichtung der Staatsduma 1905/06, Agrarreform 1906). 1914 beteiligte sich Russland am Ersten Weltkrieg (1914-1918).
Literatur:
Hösch, Edgar, Grabmüller, Hans-Jürgen (1981), Daten der russischen Geschichte. Von den Anfängen bis 1917 (= dtv 3240), München 1981
Neander, Irene (1970), Russische Geschichte in Grundzügen (= WB Forum, Bd.11), Darmstadt 41988
Stökl, Günther (1962), Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart (= KTA 244), Stuttgart 31973
Bearbeiter: Michael Buhlmann, 02.2025