Byzantinistik
Byzantinistik (Byzantinologie) ist diejenige Wissenschaft, die sich mit der Geschichte und Kultur von Byzanz beschäftigt (Byzanz <-> Byzantinisches Reich, griechisches Mittelalter; Byzanz = Konstantinopel [als Hauptstadt des Byzantinischen Reiches]). Dabei stehen der Einheitlichkeit des Untersuchungsobjekts "Byzanz" vielfältige Betrachtungsweisen (= Einzeldisziplinen, Spezialfächer) gegenüber.
"Byzantinische" Forschungen gab es dabei schon im hochmittelalterlichen byzantinischen Reich; im späten Mittelalter war das Interesse an Byzanz durch den italienischen Humanismus gegeben (originale griechische Quellen) und verbreitete sich - besonders im 17. Jahrhundert - über ganz Europa und Russland. Das endende 19. und 20. Jahrhundert brachte dann die Formierung der Byzantinistik als eigenständige Wissenschaft.
Sprache: Drei Sprachschichten sind feststellbar: Attizismus (attische Literatursprache), Koine (hellenistische Gemeinsprache), Demotike (neugriechische Volkssprache), wobei zwischen dem gesprochenen Griechisch und der schriftlichen, klassischen Tradition unterschieden werden muss.
Literatur: Aus der reichhaltigen byzantinischen Überlieferung ist zunächst die Geschichtsschreibung zu betrachten mit den Gattungen "zeitgeschichtliche Monographie (istoria)" und "Weltchronik" (Prokop von Caesarea, Agathias Scholastikos, Johannes Malalas [6.Jh.]; Georgios Synkellos, Theophanes Homologetes [7./8.Jh.]; Nikephoros I., Georgios Monachos [9.Jh.]; Konstantin VII. Porphyrogennetos, Leon Diakonos [10.Jh.]; Michael Psellos [10./11.Jh.]; Johannes Skylitzes, Johannes Zonaras [12.Jh.]; Michael Glykas Sikidites, Niketas Choniates [12./13.Jh.]; Georgios Akropolites [13.Jh.]; Georgios Pachymeres [13./14.Jh.]; Johannes VI. Kantakuzenos [14.Jh.]; Georgios Sphrantzes [15.Jh.]). Hagiographische Schriften sind die Lebensbeschreibung (bios) und die Lobrede (egkomion); hagiographische Sammlungen sind die menaia und sinaxaria. Sog. Gelegenheitswerke sind: Briefe, Reden, Gedichte (<- Rhetorik, Panegyrik), auch im kirchlichen Bereich. Aus dem Bereich der byzantinischen Verwaltung im weitesten Sinne kommen: Völker- und Städteverzeichnisse, Werke über Hofzeremonien und Ranglisten. Fachwissenschaftliche Werke sind u.a. die strategischen Schriften. Weltliche und kirchliche Rechtstexte sind ebenfalls noch zu nennen, daneben im kirchlichen Bereich Patriarchatskataloge der Bistümer, im weltlichen und kirchlichen Urkunden und Akten (Diplomatik). Auf die volkssprachliche Literatur sei nur noch hingewiesen.
Überlieferungsträger: Schriftliches ist hauptsächlich und neben Inschriften, Münzen und Medaillien auf Papyrus, Pergament oder Papier festgehalten worden. Dabei treten die Papyrusrollen der Antike (Papyrologie) neben den mittelalterlichen Pergamentcodices (Kodikologie) bald zurück, während das Papier im 9. Jahrhundert (<- Araber <- China) aufkam.
Diplomatik: Die Urkunden können nach dem Ausstellerprinzip in weltliche (Kaiser-, Despoten-, Privaturkunden) und geistliche (Patriarchen-, Bischofsurkunden) unterteilt werden, nach der Überlieferung in Originale (bei Kaiserurkunden erst ab 11. Jahrhundert), Nachahmungen und einfache Kopien. Bei den Kaiserurkunden wird unterschieden: Urkunden gesetzgebenden Inhalts (Typen: edikton, typos, pragmatikos typos, thespisma, neara, nomos, sakra; mandatum principis), Urkunden über konkrete Rechtsfälle (Typ Epistula: epistule, sakra; Typ Subscriptio: lysis [Verwaltung, Steuern], semeiosis), außenpolitische Urkunden (Verträge, Briefe an fremde Herrscher) (Typen: sakrai, grammata, basilikon, chrysobullos horismos, chrysobullon sigillon, prokuratorikon chrysobullon), Verwaltungsurkunden (Typen: prostagmata [horismoi], sigillia, codicilli). Kirchliche Urkunden sind: Urkunden und offizielle Briefe des Patriarchen, u.a. gramma, homologia (Glaubensbekenntnisse), diatheke (Testamente), aphorismos (Exkommunikation), paraitesis (Abdankung) sowie die feierlich gehaltene praxis (synodike) und die hypotyposis (Synodalbeschluss) und der tomos (Glaubenssätze). Eng mit der Diplomatik verbunden sind: Sphragistik (= Siegelkunde) mit Gold- [Chrysobull], Bleibullen, Wachs-, Papiersiegel; Paläographie (= Lehre von Schriftarten).
Epigraphik ist die Lehre von den Inschriften, wobei Inschriften in Stein, Erz, Elfenbein, in Mosaiken, Email und auf Gemälden vorkommen können.
Numismatik als Lehre von den Münzen und dem [byzantinischen] Münzwesen: Aufbauend auf die spätantike Goldwährung des Solidus, basierte das Münzwesen im byzantinischen Reich bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts auf einer Goldwährung mit Silber-, Bronze- und Kupfermünzen. Bis zum Anfang des 8. Jahrhunderts bestimmten der Solidus, der Semis und der Triens das byzantinische Münzwesen, ab dem 8. Jahrhundert gab es nur noch den Solidus als Goldmünze, ab dem 10. Jahrhundert zusätzlich das Tetrarteron; daneben konnten sich - aufgrund eines Gold-Silber-Verhältnisses von 1:14 bzw. 1:8 - Miliarense, Siliqua und Hexagramm (z.T. nur marginal) als Silbermünzen behaupten. Kaiser Alexios I. (1081-1118) konnte durch Einführung der neuen Goldmünze des Hyperpyron die Währung wieder stabilisieren. Im spätbyzantinischen Reich kam das Basilikon als Silbermünze auf. Dem wirtschaftlichen und machtpolitischen Verfall entsprach es, dass es schließlich in den letzten hundert Jahren byzantinischer Geschichte keine Goldwährung mehr gab, wohl aber ein auf vier Typen von Silbermünzen basierendes Geldwesen mit dem Silber-Hyperpyron als Hauptmünze.
Metrologie als Lehre von den Maßen und Gewichten: Benutzt wurden eine Vielzahl von Längenmaßen, wie daktylosm kondylos, anticheir, palaiste, dichas, spithame, pechys (kleine Elle), bema (Schritt), orgia (Klafter), schoinion (Maß zur Feldmessung), plethron, milion, allage, Tagesweg. Hohlmaße waren u.a.: litra, tagarion, pinakion, modios, Flächenmaße u.a. ..., modios, megalos modios, zeugarion. Maße für Wasser und Wein hießen: megarikon, metron, tetartion. Gewichtsmaße waren: krithokokkon, sitokokkon, gramma, obolos, drachme, ungia, litra, kentenarion, gomarion, pesa.
Einführende Literatur: Hunger, Herbert (1954), Studien zur griechischen Paläographie (= Biblos-Schriften 5), Wien 1954; Hunger, Herbert (1973), Byzantinische Grundlagenforschung, London 1973; Irmscher, Johannes (1971), Einführung in die Byzantinistik, Berlin 1971; Mazal, Otto (1989), Handbuch der Byzantinistik, Graz 1989; Moravcsik, Gyula (1976), Einführung in die Byzantologie, Darmstadt 1976.