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Mittelalterliche
Geschichtsschreibung

Überblick

Gedächtnis (memoria) ist auch die Erinnerung an Denkwürdiges, wie es die mittelalterliche Geschichtsschreibung herausstellt. Geschichtsschreibung (historia) ist Teil einer "historischen Kultur", des "kulturellen Gedächtnisses". Sie ist verbunden mit einer Reflexion über die Vergangenheit (und Gegenwart, etwa bei mittelalterlicher "Zeitgeschichte"), unterliegt aber zugleich den Intentionen des Geschichtsschreibers, so dass für die Späteren die Trennung von "Fakten und Fiktionen" mitunter schwierig ist. Geschichtsschreibung setzt Geschichtsbewusstsein voraus, das sich u.a. äußert im Stellenwert von Geschichte in der mittelalterlichen Gesellschaft und in der Art der Geschichtsschreibung (Volksgeschichte, Weltchroniken, Annalen, Viten, Kloster-, Bistums-, Reichs-, Stadtgeschichte, Genealogien, Gründungsberichte, Landes- und Stadtchroniken, Bischofs- und Abtschroniken, Geschichtsdichtung). Dabei fußt nach Hugo von St. Viktor die mittelalterliche Historiografie auf dem Menschen (persona), der Handlung (negotium, factum), dem Raum (locus) und der Zeit (tempus) als Grundlagen. Geschichtsschreibung stand zwischen Tradition und Wandel, sie war vergangenheitsorientiert, wenn sie z.B. auf die ehrwürdige Herkunft von Institutionen, Völkern oder Königsdynastien abhob, gegenwartsorientiert, wenn die Gegenwart mit Hilfe von Entwicklungen in der Vergangenheit erklärt wurde, und zukunftsorientiert, wenn Geschichte teleologisch gedeutet und historische Veränderungen in heilsgeschichtlichen Zusammenhängen zwischen Schöpfung und Jüngstem Gericht eingebettet wurden. Die Stellung der Geschichtsschreibung zu den mittelalterlichen "freien Künsten" (artes liberales) kann so umschrieben werden, dass die Disziplinen des Trivium die formale Grundlage der Historiografie wie des die historia umfassenden Philosophierens überhaupt bildeten, während das Quadrivium, z.B. vermittelt über die Zeitrechnung, nur die Funktion einer historischen Hilfswissenschaft besaß. Zu beachten ist indes, dass ohne die Vorstellung von Zeit, von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Geschichte und Geschichtsbewusstsein undenkbar ist.

Bearbeiter: Michael Buhlmann

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